Mein Hebammen-Indonesien-Abenteuer: Evidenz & Realität (5)

Dies ist der fünfte Teil der Artikelserie über mein ganz persönliches Hebammen-Indonesien-Abenteuer im Sommer 2019. Nach der überschwänglichen Begrüßung am ersten Tag, erlebte ich die sich daran anschließende Woche in der Uni als sehr strukturiert und fachlich wertvoll.

Ich habe ja auf Bitten der Direktorin mehrere Themen vorbereitet, die ich an den nun folgenden Tagen, jeweils morgens, den Studentinnen und Dozentinnen vortrug. Diese waren: „Notfallmanagement“, „Evidence based Midwifery“, und ein „Geburtshilflicher Ländervergleich“. Anschließend gab es stets Diskussionen und Kulturvergleiche und nach der Mittagspause ging es dann jeweils in‘s Skills Lab zur praktischen Anwendung.
Wieder war ich beeindruckt, wie gut die Studentinnen ihren Stoff auf dem Kasten hatten. Was hier jedoch leider gar nicht gefördert wird, ist kritisches Denken und Verhältnismäßigkeit. Einmal Gelerntes wird immer genau so angewandt. Also ohne situationsbedingte Anpassungen.

Regeltreue über Alles

So zeigten die Mädels mir beispielweise die indonesische Babymassage und zählten dabei bestimmte Handgriffe immer wieder stoisch ab: „und dann machen wir diese Bewegung 10x und diese 8x…“ Danach war ich dran.
Ich zeigte ihnen, wie wir das machen. Vieles war sehr ähnlich, aber Einiges war auch anders. Besonders erstaunt waren die jungen Frauen aber von meiner Aussage: „Ich mach es so, wie das Baby es mag.“ Sie fanden es total abgefahren, dass das es keine feststehende Regel dazu braucht.
Es gab noch mehr solcher Beispiele. Meine (wilde) Theorie dazu geht so: weil Indonesien erst seit 1998 demokratisch ist, die Menschen daher noch nicht gewohnt sind, die Dinge zu hinterfragen und kritisch zu sein, gelten einmal aufgestellte Regeln wie Gesetze. Und Autoritäten werden sowieso nicht, nicht mal ansatzweise, in Frage gestellt.

Als wir im Gespräch auf das Thema Gebärpositionen kamen, sagten sie, dass alle Frauen in Rückenlage gebären. Ich fragte nachdem Warum und sie sagten: „Die Frauen finden das gemütlich.“ Ich fragte, ob die Frauen denn dazu aufgefordert werden, sich zu bewegen und die Antwort darauf war: „Nein, sie werden aufs Bett geschickt.“ Tja nun…
Ich erzählte ihnen davon, dass wir in Deutschland versuchen, aufrechte Positionen zu fördern, worauf hin sie mir entgegneten: „Vielleicht sind deutsche Frauen einfach stärker als indonesische.“

Armut und Aberglaube

Ich fragte die Studentinnen auch, warum denn ihrer Meinung nach die Frauen- und Säuglingssterblichkeit so hoch ist. Neben den klassischen Begründungen, wie schlechte Ernährung und viele Infektionskrankheiten, erklärten sie mir, dass die Familien oft auf traditionelle Heiler zurückgreifen. Leider sind dies keine weisen Menschen mit weitreichenden Kräuterkenntnissen, sondern eher Quacksalber, die mit zusammengerührten Tinkturen, Tierdung und viel Hokuspokus aufwarten. Die Menschen gehen oft erst dann zu einer Hebamme oder einem Arzt, wenn der Leidensdruck tatsächlich gigantisch ist. Das hat sich während meiner Krankenhaushospitation leider noch mehrfach bestätigt: beispielsweise habe ich Frauen mit unerkannter Diabetes und komplett offenen Beinen gesehen – solch schrecklichen Wunden (bis auf den Knochen) habe ich noch nie gesehen!
Was auch verrückt ist: Wenn eine Hebamme in der Schwangerschaft ein Problem entdeckt und sie damit zum Arzt weiterschicken will, kann es sein, dass die Schwangere das so auslegt, dass ihr die Hebamme etwas Böses will und sie sich eine andere Hebamme sucht. So wie man hier zulande früher an den “bösen Blick” glaubte. Auch so passiert es, dass “Risikofrauen” nicht die Behandlung erhalten, die nötig wäre.

Geburtshaus-Besonderheiten

Was ich spannend finde ist: Wenn Frauen in einer von Hebammen geleiteten „Clinic“, also dem hiesigen Geburtshaus, gebären, dann kommt die Hebamme im Wochenbett zum Hausbesuch. Ansonsten jedoch werden die Frauen hier post partum zu vier Nachuntersuchungen ins Krankenhaus einbestellt. Vier Wochen lang, einmal pro Woche. Und dabei geht es eigentlich “nur“ um das Babywohl. Der vierte Termin ist dann immerhin für die Verhütungsberatung da, was hier leider ausschließlich Frauensache ist. Es wird sehr dafür geworben, sich zwischen den zwei bis drei „empfohlenen“ Kindern, jeweils drei Jahre Zeit zu lassen, so dass sich die Meisten für entsprechende Verhütungsspritzen entscheiden, die die Hebammen dann auch gleich verabreichen. Danach bieten die Clinics weitere Termine zum Impfen der Kinder und zur Vitaminvergabe an.

Die Milchpulverindustrie

In Indonesien wird zwar gestillt, aber oft nur sehr kurz. Die Hersteller von Formular ist hier sehr fleißig am Werk. Das viert bevölkerungsreichste Land der Welt ist ein sehr interessanter Markt für diese Firmen.
Die Auswirkungen sind hier jedoch besonders dramatisch, weil das Wasser in den ländlichen Gebieten, teilweise aber auch in den Städten, katastrophal verunreinigt ist. Bei uns vielleicht gängige Hygienemaßnahmen, wie Hände waschen oder gar das Abkochen von Leitungswasser, sind hier nicht so bekannt. Zusätzlich können sich die Familien das teure Pulver nur über einen kurzen Zeitraum leisten, und weil dann schon längst abgestillt ist, bekommt das Baby dünn gekochten Reis oder Tofuwasser.
2018 betrug die Säuglingssterblichkeit (= Todesfälle von Kindern unter einem Jahr in einem bestimmten Jahr pro 1.000 Lebendgeburten) in Indonesien: 2,3% (in Deutschland: 0,3%). Die hohe indonesische Säuglingssterblichkeit könnte laut WHO schon allein dadurch drastisch (um 12-15%) gesenkt werden, dass Frauen konsequenter stillen.

Breastfeeding Dads

2014 gründete sich eine Gruppe von Vätern(!), namens Ayah ASI – die Breastfeeding Dads – die versucht hat über soziale Medien Stillwerbung zu betreiben. Sie richten sich dabei ausschließlich an Väter: „Wenn deine Frau sechs Monate stillt, habt ihr das Geld für ein i-Phone gespart“, war einer der wirkungsvollen Sprüche. Die Väter-Initiative hat sich schnell eine ordentliche Community aufgebaut, die bis heute aktiv ist.
Leider beschränkt sich die Wirksamkeit der Kampagne vorwiegend auf die größeren Städte. In den kleinen Dörfern, wo das Problem besonders groß ist, kommt davon nur wenig an.

Aufklärung & Familie

Mir wurde gesagt, dass die ganzen Stillkampagnen und Aufklärungsansätze zwar grundsätzlich gut ankommen, dass aber der große Einfluss der Familie das Blatt meist schnell wieder wendet: „Dein Kind wird nicht satt, du musst zufüttern“, oder: „Ich hab das bei dir auch gemacht: Willst du sagen dass das etwa nicht gut war?“, heißt es dann schnell von Mutter oder Schwiegermutter. Die Mutter wird natürlich nicht kritisiert oder gar in Frage gestellt.
Im Krankenhaus erlebte ich später eine sehr gute Stillschulung für junge Mütter, bei der die ganze Familie zur Teilnahme mit eingeladen war. Es gibt also richtig gute Ansätze.

Guter Start

Am Ende des Tages führten die Studentinnen mir noch ihr speziell für die Klinik entwickeltes Schwangeren-Yoga-Programm vor, und wir machten anschließend noch zusammen den Labour-Dance, den eine der Studentinnen anleitete. Wir stopften uns dazu einen Yogaklotz unter die Klamotten, um den Bauch zu simulieren und schwangen die Hüften zu angesagter asiatischer Mucke. Leider hab ich kein Video davon.

Meine Uniwoche war sehr schön und spannend. Ich bin froh, dass ich zuerst in der Uni angefangen habe. So konnte ich mich schon mal ganz gut darüber informieren, was mich bei meinen echten Einsätzen im Krankenhaus und den Geburtshäusern erwarten würde.

To be continued

Tja, auch bei uns ist ja das Reinreden von Verwandten nicht ganz unbekannt. Bei uns geht es da immerhin nicht gleich um Leben oder Tod, aber nervig ist es auf jeden Fall. Habt ihr das auch erlebt?

Jede Frau hat das Recht auf eine positive, selbstbestimmte Geburtserfahrung. Seit ich Hebamme geworden bin verhelfe ich Frauen dazu.
Ich bin Jana Friedrich, Mutter von zwei Kindern, Hebamme seit 1998 (und seit September 2020 mit B. Sc. of Midwifery), Bloggerin seit 2012, Autorin zweier Bücher, Speakerin und Expertin im Themenbereich Familie. Mit meiner Expertise unterstütze ich darüber hinaus auch Kulturschaffende, Firmen und Politiker*innen.
In diesem Blog teile ich mit dir mein Wissen und meine Erfahrung rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und das erste Jahr mit Baby.
Du bekommst bei mir Informationen, Beratung und „Zutaten“ zur Meinungsbildung für eines der spannendsten Abenteuer des Lebens.

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5 Kommentare
  1. Avatar
    Rita sagte:

    Danke für deinen spannenden Bericht!

    Das hier hast du etwas missverständlich ausgedrück:
    > “2018 betrug die Säuglingssterblichkeit (= Todesfälle von Kindern unter einem Jahr in einem bestimmten Jahr pro 1.000 Lebendgeburten) in Indonesien: 2,3% (in Deutschland: 0,3%).”

    Die Säuglingssterblichkeit betrug 2,3% bzw. 0,3%. Wenn du sie aber als Todesfälle pro 1000 Lebendgeburten definierst, was du durch die Erläuterung in Klammern ja tust, müsstest du sie mit 23 bzw. 3 angeben (ohne Promillezeichen, da “pro 1000” ja schon zur Definition gehört). Ich habe jedenfalls ziemlich gestutzt und musste erstmal recherchieren, wie das denn genau ist.

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  2. Avatar
    Andrea sagte:

    Liebe Jana! Vielen Dank für diese spannenden Einblicke. Toll geschrieben, sehr interessant zu lesen! Respekt für Deinen Mut! Es ist so toll und gewinnbringend für einen selbst während des Studiums ins Ausland zu gehen und es ist nie wieder so einfach, dies zu tun.
    Deine Einblicke sind sehr interessant und z.T. echt traurig. Armes Land gepaart mit Kapitalismus scheint ein paar der traurigen Ergebnisse wie die hohe Sectiorate und kurze Stilldauer zu begünstigen.
    Diese Herzlichkeit und große Wertschätzung, die Die entgegen gebracht wird ist ja wundervoll <3
    Dir weiterhin alles Gute! Ich bin gespannt auf weitere Berichte!

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      Jana Friedrich sagte:

      Vielen Dank!
      Nächste Woche kommt “die zweite Staffel” der Berichte.
      Jetzt muss ich erst mal ein bisschen arbeiten.

      Aber das ganze muss von mir auch noch etwas nachbearbeitet werden. Vieles wird mich noch lange beschäftigen.
      Liebe Grüße
      Jana

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  3. Avatar
    Ute sagte:

    Liebe Jana, zu der Wasserverschmutzung: meine Tochter hat vor ein paar Jahren in Medan ein soziales Jahr an einer Blindenschule gemacht. (Inzwischen vergibt Indonesien dafür leider keine Visa mehr) Sie konnte es sich leisten, sauberes Wasser in Kanistern zu kaufen und hat das „normale“ Wasser, das die Schulkinder getrunken haben, das in der Schulküche durch Lappen gefiltert wurde, die nach 3-5 Tagen zerfielen, nur im Schulessen zu sich genommen. Trotzdem hatte sie ganz schlechte Haut und total dünne Haare (1/4 der normalen Menge) nach einem Jahr. Das hat sich wieder gegeben, aber die Kinder dort und alle anderen auch trinken dieses schädliche verschmutzte Wasser immer. Und gegen die Schadstoffe hilft auch Abkochen nicht.
    Danke für Deine spannenden Berichte!

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