Evidenz vs. Eminenz: der falsche Geburtsort & das Spiel mit der Angst

Der Stern hat ein Stück über die Geburtsort-Wahl veröffentlicht. Der Titel lautet: „Klinik oder Geburtshaus – was ist besser für Mutter und Kind? Kommt drauf an, wen man fragt…“.

Ich finde ja schon, die Frage ist ganz falsch gestellt. Denn es kann ja nicht ernsthaft um ein besser oder schlechter per se gehen, sondern es kommt natürlich immer drauf an, für wen und warum!

Für eine Risikoschwangere ist eine Klinikgeburt oft die bessere Entscheidung – kommt natürlich sehr auf das konkrete Risiko an. Für eine Schwangere, die gesund ist, keine Vorbelastungen hat und deren Schwangerschaft unauffällig ist, also gut verläuft, kann eine Hausgeburt hingegen eine sehr gute Wahl sein.

Und jetzt haben wir noch nicht mal einbezogen, dass diese Entscheidung nicht nur von Helfenden, sondern primär natürlich von den Schwangeren selbst getroffen werden sollte.

Was ist passiert?

Aber gut. Digitale Magazine nutzen ja gerne “etwas” Polarisierung.

Gefragt hat der Stern auf der einen Seite eine Hebamme, Maresa Fiege, die in einem Dorf in der Uckermark einen Geburtshof (quasi ein Geburtshaus) leitet und auf der anderen Seite den Direktor der Klinik für Geburtsmedizin an der Charité in Berlin, Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich.

Wer in der „Geburtenbubble“ unterwegs ist, weiß, dass Herr Henrich Hausgeburten unverantwortlich findet. So sagt er dann auch, dass er die außerklinische Geburtshilfe in Deutschland am liebsten verbieten lassen würde: „Der Gesetzgeber sollte sich trauen, den Menschen diese Entscheidung abzunehmen”. Er fühle sich als Anwalt des ungeborenen Kindes und könne nicht verstehen, warum sich Eltern um die Sicherheit des Kindes sorgen, wenn es um Fahrradhelme und Autositze ginge, nicht aber bei der Geburt. BÄM!

Die Social Media-Welle

Und diese Zeilen sind es dann auch, die der Stern in den sozialen Medien verbreitet.

Nichts, was die Worte des Mediziners einordnet. Nichts dazu, dass die Daten, die zur Außerklinik erhoben werden, eine ganz andere Sprache sprechen. Nämlich, dass außerklinische Geburten, vor allem bei low risk Frauen sehr sicher sind.

Und auch nichts dazu, dass ein Klinikaufenthalt oft erst zu unerwünschten Interventionen führt. Vor allem, da in der Klinik eine 1 zu 1 Betreuung durch Hebammen nach wie vor illusorisches Wunschdenken anstatt angestrebter Priorität ist.

Dafür legt der Stern noch ein obendrauf und berichtet, dass die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) den Frauen empfiehlt, grundsätzlich in einer Klinik zu gebären und nicht im Geburtshaus oder zu Hause.

Und jetzt muss man wohl mal den Unterschied zwischen Eminenz- und Evidenzwissen erklären. Und sich obendrein fragen, welchen Digitalmagazinen man noch folgen mag.

Evidenzbasierte Medizin

Evidenz bedeutet „überzeugende Gewissheit“. Und diese Gewissheit wird in der Medizin erlangt, indem man sich alle Forschungsergebnisse zu einem Thema anschaut und interpretiert. Für die außerklinische Geburtshilfe macht das in Deutschland die „Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe“ (QUAG e.V.). Die QUAG ist eine unabhängige Einrichtung und als gemeinnütziger Verein organisiert.

Jährlich veröffentlicht sie in Qualitätsberichten die jeweils aktuellen Ergebnisse.

Und diese Daten zeigen deutlich: Die außerklinische Geburt ist sicher. Punkt.

Eminenz

Eminenzbasierte Medizin hingegen ist „eine Medizin, in welcher der Status des Herrn Doktor Garant für die richtige Behandlung“ ist. „Die Eminenz der „Götter in Weiss“ …“ (Brühlmann, 2012).

Und natürlich haben Menschen, die lange in einer Fachrichtung arbeiten, einiges an Wissen und Erfahrung angehäuft. Man sollte also meinen, dass ein Arzt, der seit Jahrzehnten in der Geburtshilfe arbeitet, schon weiß, was er tut.

Jein. Im Falle unseres interviewten Chefarztes kann man mutmaßen, dass dieser eben in einer Level-1-Klinik mit überdurchschnittlich vielen Risikoschwangeren zu tun hat. Dadurch bekommt er sehr wahrscheinlich das Gefühl, Geburten seien per se risikoreich.
Das, was er von der Außerklinik mitbekommt, sind die abgebrochenen Haus- und Geburtshausgeburten. Nämlich dann, wenn die Geburt sich nicht regelrecht entwickelt, bei Notfällen und wenn die Frau ein Schmerzmittel wünscht, welches zu Hause nicht verabreicht werden kann. Also in Fällen, in denen ärztliche oder zumindest medikamentöse Hilfe nötig ist.
Wunderschöne, interventionslose außerklinische Geburten erlebt er also eher nicht.

Und wahrscheinlich sieht er auch in seiner Klinik keine, denn zu komplikationslosen Geburten werden Chefärzte in der Regel nicht mehr hinzugezogen.

Sein Bild von Geburt ist also wohl ziemlich einseitig. Dadurch entstehen Glaubenssätze, die so gar nicht evidenzbasiert sind.

Aber der Berufsverband für Gynäkologie und Geburtshilfe sagt doch auch…

Jetzt fragt ihr euch vielleicht, warum aber ein ganzer Berufsverband außerklinische Geburten ablehnt. Nun, dort treffen eben viele ÄrztInnen dieses Kalibers aufeinander, ist meine Vermutung.

Andere Menschen werden noch deutlicher (aus der SZ, 2019):

“Vom Berufsverband der Frauenärzte sind wir irreführende Meldungen gewohnt”, sagt Ingrid Mühlhauser, Gesundheitswissenschaftlerin aus Hamburg. “Der Verband scheint nicht die Interessen der Frauen zu vertreten, sondern eigene berufspolitische.”

Oder:

“Es ist eine beliebte Reaktion medizinischer Berufsverbände, unliebsame Studien abzuwerten und die Ergebnisse zu diskreditieren, ohne ihre Gegenposition mit eigenen hochwertigen Untersuchungen zu belegen”, sagt Studienexperte Gerd Antes, langjähriger Leiter des Cochrane-Zentrums in Freiburg, das die Qualität medizinischer Studien bewertet.

Andere Länder, andere Regeln

Interessant ist es ja auch noch mal zu schauen, wie andere Länder mit ähnlich guten geburtshilflichen Outcomes, wie wir sie haben, das machen.

In Großbritannien z.B. wird einer Frau, mit einer regelrecht verlaufenden Schwangerschaft, generell eine Hausgeburt empfohlen.

Die Leitlinie des National Institute for Health and Care Excellence (NICE, 2022), das Empfehlungen für den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (NHS) herausgibt, besagt, dass für etwa die Hälfte aller Frauen mit einer unkomplizierten Schwangerschaft eine Hausgeburt – oder die Geburt in einem von Hebammen geleiteten Geburtshaus – „sicherer“ ist als die Geburt in einer Klinik.

Da fragt man sich doch, warum kommt der Deutsche Berufsverband zu ganz anderen Schlussfolgerungen? Vielleicht muss denen jemand noch mal den Unterschied von Evidenzen und dem „Bauchgefühl“ diverser „Eminenzen“ erklären.
Ich bin ja großer Fan des Bauchgefühls – man darf nur dabei die Faktenlage nicht ignorieren.

Zur Einordnung

Und um diesen Text noch mit ein bisschen positivem Drive zu beschließen, möchte ich euch noch eine evidenzbasierte Empfehlung, aus dem Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft zur außerklinischen Geburtshilfe mitgeben:

„In Deutschland haben Schwangere das Recht, den für sie und ihre Kinder passenden Geburtsort zu wählen. …

Die Wahlfreiheit ist ein hohes Gut und gilt für Interventionen jeglicher Art. Gerade, weil sich für «low risk» Schwangere Hinweise darauf mehren, dass die Klinikgeburt Nachteile birgt, sollte einer einseitigen Beratung in diese Richtung entgegengewirkt werden.“ … (DGHWI, 2020)

Was ich mir wünsche

Der „Stern“-Artikel ist an sich relativ ausgewogen. Aber die Social Media Abteilung hat sich wohl gedacht: Supi, da hat der ja was richtig Polarisierendes gesagt. Das bringt LeserInnen. Das teilen wir jetzt mal auf Instagram.

Das ist an sich OK, wenn es sich einfach um irgendeine Meinung handelt. Aber bei so ‘nem  Chefarzt denken natürlich alle: der muss es ja wissen.

Hier sind so viele unterwegs, die sich seit Jahren darum bemühen, Fakten zur Sicherheit von außerklinischen Geburten zu verbreiten. Da ist es schon bitter, wenn das so leichtfertig kaputt gemacht wird. Es wäre wirklich toll, wenn Medien, wie diesmal der „Stern“, damit aufhören würden, mit Clickbait Menschen in die Irre zu führen. Danke!

Der richtige Geburtsort

Für alle, die auf der Suche nach einem Ort ihrer Wahl für eine gute, sichere Geburt sind, lesen gern: „Auf der Suche nach dem richtigen Geburtsort“ hier im Blog weiter.

Gegen Diskriminierung

Im Netz las ich, im Zusammenhang mit dem Stern-Text, einiges über alte, weiße Männer. Auch ich hatte den Impuls das zu tun, weil ich auch keinen Bock mehr habe, mir von Männern die Welt (falsch) erklären zu lassen. Aber tatsächlich möchte ich weder alte, noch Menschen irgendeiner Hautfarbe, noch Männer diskriminieren. Und zweitens haben die letzten Tage gezeigt, dass auch junge Frauen – sogar solche, die sich eigentlich der Wissenschaft verschrieben haben – bisweilen ziemliche Klopper leisten. Aber das ist eine andere Geschichte. Die soll ein anderes Mal erzählt werden…

Was meint ihr?

So, nachdem ich mich jetzt hier etwas entladen habe, bin ich natürlich gespannt auf eure Meinungen zum Text des Sterns, oder der Sache an sich. Also zu dem Teil, den man ohne Bezahlschranke lesen kann. Denn extra kaufen sollte man den Quatsch natürlich nicht.

Bartens Wenn Ärzte funktionäre Fakten leugnen. Süddeutsche Zeitung, 2019

Brühlmann. Eminenzbasierte Medizin. Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2012;93: 10

Intrapartum care for healthy women and babies. London: National Institute for Health and Care Excellence (NICE); 2022 Dec 14. (NICE Clinical Guidelines, No. 190.)

Loytved C, Funk M, Zinßer LA für die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft. Außerklinische Geburtshilfe. 2020;8(1):13-5. Positionspapier.

Jede Frau hat das Recht auf eine positive, selbstbestimmte Geburtserfahrung. Seit ich Hebamme geworden bin verhelfe ich Frauen dazu.
Ich bin Jana Friedrich, Mutter von zwei Kindern, Hebamme seit 1998 (und seit September 2020 mit B. Sc. of Midwifery), Bloggerin seit 2012, Autorin zweier Bücher, Speakerin und Expertin im Themenbereich Familie. Mit meiner Expertise unterstütze ich darüber hinaus auch Kulturschaffende, Firmen und Politiker*innen.
In diesem Blog teile ich mit dir mein Wissen und meine Erfahrung rund um Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und das erste Jahr mit Baby.
Du bekommst bei mir Informationen, Beratung und „Zutaten“ zur Meinungsbildung für eines der spannendsten Abenteuer des Lebens.

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4 Kommentare
  1. Avatar
    Josephin sagte:

    Liebe Jana,
    leider bin ich jetzt erst auf deinen grandiosen Artikel gestoßen und wollte dir gern noch einmal meine vollste Zustimmung hier lassen. Wie schade, dass dies der erste Kommentar ist, denn eigentlich sollte es hier reihenweise zustimmend Kommentare regnen. Aber die Medien zu kritisieren ist nicht leichter geworden seit dem letzten großen Weltgeschehen… Danke für deinen Mut deinem Ärger Luft zu machen und für deine offenen, klare Worte!
    Herzlichste Grüße,
    Josephin (Mama von 4 Mädchen & Überlebende von 3 Haus-, davon 2 Alleingeburten ;-))

    Antworten
  2. Avatar
    Sabine Oberste-Berghaus-Paulini sagte:

    Ich bin leider auch gerade erst auf deinen Artikel gestossen.
    Ich bin Mutter von vier Kindern, alles Hausgeburten, wunderbar versorgt von meiner Hebamme, dazu meinem Frauenarzt – der auch zu den Geburten dazu kam – und unserem Kinderarzt, der zur U2 ins Haus kam. So eine gute Versorgung wie ich sie hatte findet im Krankenhaus NICHT statt.
    Mittlerweile bin ich dreifache Großmutter und Großtante und teilweise entsetzt über die Behandlung werdender Mütter…Ich habe gerade eben bei einer Nichte die Komplikationen miterlebt, die erst durch die Klink hervorgerufen worden sind.
    Hausgeburten sind sicher. Und jede Schwangere sollte selbst entscheiden, welcher Geburtsort richtig für sie ist. Mein Bauchgefühl hat mir damals von der Klinikgeburt abgeraten und ich habe mir sogar einen anderen Frauenarzt gesucht. Und das war genau richtig so.

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    • Avatar
      jana sagte:

      Wie schön, dass du so gute Erfahrungen machen konntest.
      Wie du sagst: Jede Schwangere sollte selbst entscheiden können, was für sie das Richtige ist. Dazu eine gute Vorsorge durch ExpertInnen. Das macht Geburten sicher und schön.
      Daher müssen wir uns alle weiterhin für eine gute (Hebammen-)Versorgung starkmachen.
      Herzliche Grüße
      Jana

      Antworten

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